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Tavan Bogd – Fünf Heilige

HELGA HENGGE
TEXT UND FOTO

Das mongolische Altai-Gebirge erstreckt sich vom Westen der Mongolei bis zur Wüste Gobi im Süden. Die Tavan Bogd stehen im äußersten Westen, an der Grenze zu China und Russland. Der Kalte Berg, Khuiten Uul, ist der höchste in der Mongolei, sein Haupt leuchtend weiß wie die Kuppel einer Stupa. Mit Nairamdal, Bürged, Malchin und Ölgii thront er über dem großen Potaningletscher, der von ihren Füßen in die Täler der Hochlandnomaden fließt.

Die Fünf Heiligen werden von den einheimischen Uriankhai, Tuvan und Kasachen verehrt – neben Vater Himmel (Tenger) und Mutter Erde (Gazar), den bedeutendsten Wesen im schamanischen Glauben. Tenger, der zeitlose und endlose blaue Himmel, Gazar, die Erde, die uns nährt.





Basecamp – 2900 Meter

Mein Team hatte am späten Abend, als ich bereits in den Daunen lag, mit Tulgar das Knochenorakel Shagai befragt. Beim ersten Würfeln war es unentschieden, beim zweiten lagen die Knochen von Ziege, Schaf, Kamel und Pferd nebeneinander. Das deutete darauf hin, dass der Aufstieg gut verlaufen würde. Nur viermal Pferd wäre noch besser gewesen.

Ich hatte die Beine in der Abendsonne ausgestreckt, als Baska an mein Zelt kam. „Ich gehe heute Nacht mit den Italienern zum Gipfel. Du kannst mitkommen.“
Das Wetterfenster, auf das wir seit Tagen vergeblich gewartet hatten, war im Anflug. Wenig Wind, blauer Himmel für 24 Stunden.
„Ohne High Camp direkt zum Gipfel?“ fragte ich.
Er nickte.
„Wow“, mehr fiel mir nicht ein.

1400 Höhenmeter, noch einmal über den langen Gletscher hinauf und weiter. Ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
„Schaffst du“, sagte Baska. Ich nickte – es war die einzige Chance, die ich haben würde. Schon am nächsten Tag sollten die Kamele kommen, um weiterzuziehen zum Pferdetrekking am Weißen Fluss.

Kaum war Baska gegangen, kamen Zweifel. Meine Beine taten weh, der Rücken schmerzte – eigentlich war ich nicht fit genug, ohne Rasttag erneut aufzusteigen. Wir waren erst am Nachmittag vom High Camp auf 3700 Metern zurückgekommen, nach zwei stürmischen Nächten am Berg. In den Tagen zuvor hatten wir die Gipfel von Malchin und Nairamdal erreicht. Dort ließ sich der Wind aushalten, doch vom Khuiten wehten weiterhin hohe Schneefahnen.
„Zu gefährlich“, hatte Baska entschieden.

Nun aber war der Himmel klar und die Luft still. Welch ein Glück, wenn dieses Wetter halten würde. Ich begann, meinen Rucksack zu packen, als Bagii, unser Küchenchef, zum Abendessen rief.


Gipfelnacht

Um 3 Uhr morgens war Abmarsch – mit voller Hochgebirgsausrüstung! Zuerst begleitete uns bei eisigen –8 °C dichter Nebel. Wir konnten nicht einmal die Abgründe bei den Kletterpassagen erkennen.

Dann hieß es Steigeisen anlegen: zwei Gletscherquerungen mit bis zu 45° steilen Eisflanken und bizarren, unheimlich anmutenden Eisformationen lagen vor uns.

Nach der letzten Schlüsselstelle – einer knackigen Felsstufe mit Kaminkletterei kurz unterhalb des Gipfels – riss die Wolkendecke plötzlich auf und gab ein gewaltiges Szenario preis.

Es war geschafft!

Ein Traum war für uns in Erfüllung gegangen. Wir konnten unser Glück kaum fassen, doch zugleich befiel uns ein Gefühl tiefer Demut:
Demut vor den unglaublichen Leistungen der Helden früherer Zeiten, ohne deren Mut und Forschungsdrang wir heute nicht hier stünden.
Demut aber auch vor der großartigen Natur und unserer großen Erde, die wir winzigen Geschöpfe nur als Gast betreten dürfen. Und das sollten wir niemals vergessen.

Der Abstieg über Mount Baker und den Freshfield-Pass gestaltete sich bei starkem Schneefall und später Regen genauso schwierig und eindrucksvoll wie der Aufstieg.


Zwischenfall am Gletscher

Während des Abstiegs stürzte Ilaria und verfing sich im Sicherungsseil. Sie rutschte, zappelte und fand keinen Halt. Baska hielt das Seil, doch helfen konnte er ihr nicht.

Ich hangelte mich vorsichtig am Fixseil hinauf, presste meine Steigeisen mit voller Kraft unter ihre ins Eis, sodass sie wieder festen Stand bekam. Dann reichte ich ihr die Hand.

„Ich hab' dich“, sagte ich tröstend. „Jetzt kann nichts mehr passieren.“

Mattia, der blitzschnell seinen Pickel in den Boden gerammt und sich darauf geworfen hatte, half uns, das Seil zu entwirren. Ilaria atmete wieder ruhig. Wir setzten den Abstieg fort.


Rückkehr

Nach einem Halt am Bujongolo-Rock-Shelter – einem spektakulären Felsüberhang, unter dem 1906 auch die Expedition des Herzogs der Abruzzen lagerte – stiegen wir entlang der Grenze zu China und Russland weiter ab. Schließlich erreichten wir das Nationalparkgate.

Eine eindrucksvolle, intensive Bergreise im wilden Altai ging damit zu Ende.

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