ÜBERSICHT

Der „Apu" in der Cordillera Vilcanota

Helga Hengge

BERGE SIND SEIT URZEITEN MYSTISCHE ORTE, geheimnisumwoben und mächtig, bedrohlich und unnahbar, lebensspendend und göttlich. In vielen Naturreligionen werden sie als Wohnstätten der Götter verehrt, als Verbindung zwischen Himmel und Erde, als Quelle des Lebens und der Kraft. Manche Gipfel muss der Pilger mühsam erklimmen, um den Göttern und dem Naturschauspiel nah zu sein, wie den Fuji in Japan, andere Berge werden seit Tausenden von Jahren auf einer Kora umwandert, in respektvoller Distanz, wie der Kailash in Tibet. Manche schneebedeckten Gipfel sind tief im Urwald verborgen und fordern ein behutsames Ringen durch Dschungel und Hochmoor, wie die sagenumwobenen Mondberge in Uganda, andere strahlen schon von Weitem in göttlichem Glanz, majestätisch und erhaben, wie die Apus der Inka in Peru. Es gibt Berge, die sind so tief in der Mythologie verankert, dass mancher erstaunt ist, dass es sie wirklich gibt, wie der Olymp in Griechenland, andere, wie der Ol Doinyo Lengai in Tansania, Wohnsitz des einen und einzigen Gottes Engai, speien Feuer und Rauch, und erinnern die Menschen, die zu ihren Füßen leben, immer wieder an ihre göttliche Kraft.

Mystische Orte … verehrt, als Verbindung zwischen Himmel und Erde, als Quelle des Lebens und der Kraft

ICH ERINNERE MICH noch ganz genau an den Tag, an dem ich zum ersten Mal vom heiligen Berg gehört habe. Eine Handvoll Eiskristalle von seinem Gipfel habe ich langsam auf der Zunge zergehen lassen, in völliger Dunkelheit, in einer Höhle, tief im Inneren eines namenlosen Berges. Wir waren seit sechs Wochen am Mount Everest und hatten unsere Höhencamps eingerichtet, in sehr stürmischen Aprilwochen. Dann begann das lange Warten auf das Wetterfenster, ein paar Tage Windstille und Wärme, um zum Gipfel aufzusteigen. Das Fenster würde kommen, da waren sich alle einig. Der herannahende Monsun würde den Jetstrom in höhere Lüfte schieben und die Gipfelkrone des höchsten Berges der Welt für ein paar Tage vom Wind befreien. Das geschah jedes Jahr, immer in der zweiten, dritten oder vierten Maiwoche. Die Frage war nur, wann? Wir waren ausreichend akklimatisiert, bereit für den großen Aufstieg, bereit für den Tag, auf den wir alle so lange gewartet hatten, aber das Wetterfenster war nicht in Sicht. Immer noch tobten eisige Winterstürme um den Gipfel.


Helga Hengge ist Autorin, Keynote Rednerin und Bergsteigerin. Sie hat als erste Deutsche erfolgreich den Gipfel des Mount Everest und der Seven Summits erreicht. In ihren Vorträgen nimmt Helga Hengge ihre Zuhörer|innen mit auf die höchsten Berge der Welt. Begleitet von spektakulären Bildern erzählt die Extrembergsteigerin nicht nur von physischen und emotionalen Grenzgängen, sondern auch vom Abenteuer großer Herausforderungen, von Teamwork und Führung, dem Umgang mit Rückschlägen und dem Mut aus der Landkarte hinauszuwandern.

Helga Hengge startete ihre Karriere bei der Zeitschrift VOGUE in München. Sie studierte Philosophie, Marketing und Film an der New York University und arbeitete zwölf Jahre als Moderedakteurin in New York. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen und veröffentlichte die Bücher: „Nur der Himmel ist höher“ und „Abenteuer Seven Summits“. Bekannt wurde sie durch ihre Auftritte bei Markus Lanz, Kai Pflaume, Harald Schmidt und Planet Wissen. Heute lebt Helga Hengge mit ihrer Familie in der Nähe von München. Sie hat zwei Kinder.

Immer wieder bricht sie auf zu kleinen Expeditionen, in den letzten Jahren bevorzugt zu den heiligen Bergen.

LACCHU, UNSER KÜCHENCHEF UND BASECAMP MANAGER, predigte Geduld, aber das fiel uns schwer. Schließlich schickte er uns ins alte Rongbuk Kloster am Fuße des Berges. Dort sollten wir Norbu bitten, mit uns zu beten. Das würde sicher helfen. Und das taten wir, fünf Sherpas und ich. Der alte Mönch hauste alleine in den Ruinen des Klosters und kümmerte sich um die heilige Stätte. Er freute sich, dass wir ihn besuchten und führte uns durch das zerfallene Gemäuer, zeigte uns den Fußabdruck von Padmasambhava, die versteinerte Decke von Milarepa, der dort meditiert hatte, und viele andere seltsame Reliquien buddhistischer Heiliger. Nachdem wir alles aufrichtig bestaunt hatten, nahm Norbu uns mit zu den Felsen hinter den Ruinen. Durch einen schmalen Spalt stiegen wir in eine Felswand ein und folgten dem Mönch in ein unterirdisches Labyrinth, mal krochen wir auf allen Vieren, dann tasteten wir uns an kalten Felswänden entlang. Norbu ging immer voraus, eine Kerze in der Hand, manchmal griff er nach meinem Arm und zog mich mit sich durch schmale Gänge, tiefer und tiefer in den Berg hinein. Plötzlich stoppte er und blies die Kerze aus. Alles war schwarz. Wir lauschten in die Dunkelheit, ins Nichts, in die Unendlichkeit; die Zeit stand still und bewegte sich nicht. Dann entzündete Norbu ein Streichholz und erleuchtete die Dunkelheit. Der Schein seiner Kerze fiel in einen schmalen Gang an dessen Ende die Wände, der Boden und die Decke in einem schmalen Punkt zusammenliefen, wie zu einem Fenster, in dessen Scheibe etwas Helles aufblitzte. Wir lauschten in die Dunkelheit, ins Nichts, in die Unendlichkeit – die Zeit stand still und bewegte sich nicht „Kang Rinpoche“ flüsterte der Mönch. „Kailash, der heilige Berg“ übersetzte einer der Sherpas. „Man kann ihn dort sehen, sagt er.“ Norbu nickte und gab ihm die Kerze. Dann kroch er den Gang entlang und kratzte am Felsen. Als er zurückkam hielt er jedem von uns ein kleines Stück Eis hin. Er nahm seins in den Mund und die Hände zum Gebet vor die Brust. Wir taten es ihm nach. Als wir aus der Höhle wieder ins Sonnenlicht traten, hatte Norbu ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. Er trank mit uns den Buttertee, den Lacchu uns mitgegeben hatte, und sagte, die Götter wären mit uns.

AN DEM ABEND saß ich bei Lacchu in der Küche und fragte ihn, was es mit dem heiligen Berg in Tibet auf sich hatte. „Du kommst mit mir, dann wirst Du es selber sehen,“ antwortete er. Jahre später wanderten wir zusammen um den Kailash. Das war der Beginn meiner Reise zu den heiligen Bergen, eine Entdeckungsreise, die mich schon viele Jahre in nahe und ferne Ecken der Welt führt. Es sind die Geschichten der Menschen und ihrer Berge, die mich inspirieren und faszinieren, die tiefe Verehrung, die sie der Natur und dem Göttlichen in ihr entgegenbringen. Und wenn ich dann eine Weile mit den Augen derjenigen hinaufschaue, die am Fuße des Berges leben, spüre ich die göttliche Kraft, die Ehrfurcht und den Respekt, auch in mir.


Du kommst mit mir, dann wirst Du es selber sehen


HELGA HENGGE wird für TOP MOUNTAIN TOURS jedes Jahr eine exklusive Sonderreise zu einem der „Heiligen Berge“ leiten. Erstes Ziel ist der Ausangate in der Cordillera Vilcanota in Peru. Für die einheimischen Quechua ist der mächtige Sechstausender ein “Apu”, ein heiliger Berg.

Zur Reise im Sommer 2022 mit Helga Hengge geht es hier!


WEITER LESEN

TOP MOUNTAIN TOURS Homepage | Impressum | Magazin als Druckausgabe bestellen | Newsletter bestellen